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Rede des Schulleiters Paul Delienne aus Roubaix

Warum gibt es in dieser Welt immer noch Kinder, denen man niemals wunderbare Geschichten erzählt? Warum gibt es heute immer noch Menschen, die darauf versessen sind, Träume zu töten und Feen umzubringen?

Warum wollen heute immer noch gewisse Kreise verhindern, dass (die) Geschichte(n) gut enden?

Ihr jedoch seid groß und erwachsen. Ich möchte euch eine wahre Geschichte erzählen, die Geschichte eines jungen Mädchens eures Alters, also von ungefähr 16 Jahren. Sie war wie Ihr, sie lachte, sie amüsierte sich, ärgerte ihre Lehrer. Sie hatte ihre Freundinnen, ihren Freund, sie hatte allerlei Flausen im Kopf. Im Jahre 1942 schrieb sie beim Anblick ihres Fotos: "Ich möchte gerne immer diesem Bild ähneln, so dass ich vielleicht einmal die Chance habe nach Hollywood zu gehen." Wie Ihr hatte sie ihre Vorbilder, sie wollte, dass man ihr Beachtung schenkt, sie wollte hübsch sein, sie hatte Lust zu allem, vor allem hatte sie Lust zu leben!

Aber eines Tages forderte ihr Vater sie auf sich zu verstecken, weil man überall behauptete, sie sei nicht wie die Anderen: sie sei Jüdin, auch wenn ihr Name Anne Frank sei. So begann sie, ein persönliches Tagebuch zu schreiben, das sie nie beenden konnte. Sie wird nie ihren Märchenprinzen treffen, sie wird nie in einem Schloss wohnen, sie wird nie viele Kinder haben und wird im Jahr 1945 von einem Monster verschlungen. Ihr Land war ihr nicht wichtig, wenig kümmerte sie, was sie darstellte. Sie wollte vor allem eine Jugendliche sein, die wie Ihr das Leben voll genießen wollte!

Schauen wir uns an, was sie im November 1943 schreibt:

"In meinem Versteck fühlen wir uns wie ein kleines Stückchen blauer Himmel, das von schwarzen, sehr schwarzen Wolken umgeben ist. In dem sehr begrenzten Ring, in dem wir uns bewegen, sind wir noch in Sicherheit, aber die Wolken nähern sich jeden Tag ein bisschen mehr, und der Ring, der uns von der nahenden Gefahr trennt, schließt sich immer enger um uns. Wir schauen hinunter, wo sich die Leute streiten, wir schauen hinauf, wo es still und schön ist, und in der Zwischenzeit ist unser Ring abgetrennt durch die dunkle Masse ... die sich vor uns wie eine undurchdringliche Mauer auftürmt, immer bereit uns zu zerstören, aber noch nicht dazu in der Lage. Es bleibt mir nur zu schreien und zu bitten: >Oh Ring, du Ring, vergrößere dich und öffne dich für uns! <"

Ihr werdet mir sagen, 1943, das ist lange her! Ihr werdet mir sagen, dass Ihr das alles wisst, dass man euch bereits von Anne Frank erzählt hat, dass Ihr das alles auswendig könnt und dass Ihr heute nicht hier seid, um euch dieses ganze Elend anzuhören! Und außerdem, was sind dieser Ring, diese Wolken? Was will Anne Frank uns sagen?

Ihr habt gewiss Recht, weil heute der Tag des Wiedersehens und des Austauschs unserer Freundschaft ist! Heute kann man euch keinen Kummer zufügen und auch nicht die gute Laune verderben! Man hat nicht das Recht, Erfolgsgeschichten zu zerschlagen!

Dennoch sollten wir heute Anne Frank die Ehre erweisen, unserer Fee, deren Name unsere Schulen vereint und uns hier und heute zusammenführt. Wir sind uns ihr Andenken schuldig. Denn die Tinte, mit der sie diese Worte im Jahr 1943 geschrieben hat, hat wie auf einem Löschpapier große Kleckse auf den Buchseiten hinterlassen, die wir heute umblättern.

Nein, ihre Geschichte ist nicht zu Ende. Wahre Geschichten haben kein Ende!

Die großen Wolken, die sich streitenden Leute existieren immer: wir kennen all das, was in der Welt passiert:

Länder, die sich jeden Tag ihren Hass in Form von Flugzeugen, Bomben und Kugeln schicken, fast so, als schickten sie sich Einschreibebriefe;

Länder, in denen jeder, nur auf sein eigenes Stück blauen Himmels fixiert, die dunklen Wolken hereinlässt und seinen Nachbarn, seinen Bruder, sein Gegenüber tötet in der Überzeugung, wie im Märchen der Richter und Rächer zu sein;

Länder, in denen jeder im Schutz seines eigenen blauen Rings das Nahen der Wolken nicht sieht, in denen erblindete Vögel von ihren in Schrecken versetzten Flügeln gerade die Äste des Lebens und der Unschuld, die Geschichten von Hoffnung und Liebe abschneiden;

Länder, in denen Kinder weder das Recht zu lesen noch etwas zu sagen und zu schreiben haben;

Länder, in denen die Mädchen das Recht haben, sich in ihren Kleidern zu verstecken und nicht zu existieren;

Länder, in denen der blaue Ring als letztes Bollwerk gegen den Hass und den Terror schon leicht angeknabbert ist, weil der liebenswerte Prinz kein Misstrauen kannte gegenüber dem Terrorismus, gegenüber dem Hochmut der Einen und der Anderen, gegenüber diesen schrecklichen Worten: >Ich habe Recht, so oder so!<

Dornröschen (La fée au bois dormant), Heldin eines unserer alten französischen Märchen, hat vergeblich geglaubt, er würde sie wieder erwecken. Leider kommt er allzu oft nicht, und unsere arme Prinzessin verschwindet!

Ihr, die Jungen, die in 10 bis 20 Jahren unsere Generation ablöst, Ihr solltet diesen Ring, den Anne Frank beschreibt, bewahren: dieser Ring ist euer Ring; wir Anderen zeichnen ihn heute für euch! Eure Eltern, eure Lehrer, Frau Schütz, Herr Stöckmann, Mme le Goff haben heute durch ihre Hingabe die ersten Kreidestriche dieses Rings gezeichnet. Und M. Robert Cailleaux, Beigeordneter des Bürgermeisters von Roubaix, der die Aufgabe hatte, Stadt und Schule zusammenzuführen, sowie Herr Erdorf, Schulleiter der Anne-Frank-Gesamtschule in Viersen, und ich, wir beginnen den Ring blau einzufärben!

Akzeptiert euch, liebt euch! Erzählt und schreibt die Märchengeschichten weiter! Wir haben ja gerade erst unser gemeinsames Tagebuch begonnen!

Die besten Wünsche des Gedeihens unseren beiden Anne-Frank-Schulen! Die besten Glückwünsche euch allen, den Kindern und ihren Familien!

Dank allen, die uns geholfen haben den Stift zu führen.